Mehr als drei Jahrzehnte dauerte es, bis 1953 die Besteigung des höchsten Berges der Erde, des Mount Everest, durch Tenzing Norgay und Edmund Hillary gelang. In den folgenden zehn Jahren gelang es weiteren 13 Personen, den Gipfel zu erreichen. In weiteren zehn Jahren waren es 23 Bergsteiger, den dann folgenden zehn Jahren 120, und in den nächsten zehn Jahren 456 [1]. Dieser zahlenmäßige Anstieg pro Zeitraum setzte sich fort. Schließlich erfolgte ein Drittel (!) aller erfolgreichen Besteigungen innerhalb von nur drei Jahren! [2]

Gleichzeitig wurden die „Leistungen“ an diesem Berg immer erstaunlicher, ja verrückter (die erste Besteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff, die erste Überschreitung, die erste Speedbegehung, der erste Hattrick, die erste Ski-Abfahrt, usw.).

Natürlich spielen bei diesem Phänomen verbesserte Ausrüstung, verbesserte Ausbildung usw. eine Rolle. Aber den gleichsam exponentiellen Anstieg der Personenzahl, die eine solche Leistung erreichen und manchmal übersteigen, können diese Faktoren allein nicht erklären.

Ein solches Phänomen begegnet uns nicht nur in der Bergsteigerei, sondern in vielen Bereichen. Die einst unerreichte Virtuosität eines Paganini ist bereits für viele Violinstudenten heute Standard, und wird von nicht wenigen Geigern längst übertroffen. Der (nach der Legende) tödlich verlaufene Marathonlauf ist heute Hobby ungezählter Freizeitjogger – gar nicht zu reden von den Läufern, die mittlerweile Distanzen im vierstelligen km-Bereich zurücklegen.

Als Siddhartha Gautama vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden die Erleuchtung fand, war er vielleicht der erste [3]. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass damit eine ähnliche quasi-exponentiell verlaufende Entwicklung einsetzte wie bei der Besteigung des Mount Everest. Immer mehr Menschen gelang und gelingt es, in immer kürzeren Zeitabschnitten „Erleuchtung“ [4] zu erlangen [5].

Doch dieser Gedanke behagt vielen Menschen nicht. Es gehört zur menschlichen Psychologie, unumschränkt vorbildtaugliche Personen hoch zu stilisieren, sie auf Sockel zu stellen, welche die Vorbildlichkeit noch erhöhen, gleichzeitig aber auch für uns unerreichbar zu machen. Denn jedes eigene „Versagen“, jedes eigene Unvermögen erscheint dann weniger bedeutend. Wir fühlen uns mit unseren Schwächen oder (Noch-)Nicht-Fähigkeiten einfach weniger unwohl, wenn wir sagen können: „Ja der, der war ja auch der Buddha!“ oder „Ja der, der war ja auch Gottes Sohn!“ oder „Ja die, die war ja auch eine Heilige!“. Das kratzt weniger an unserem Selbstwertgefühl, ohne dabei unser Vorbild zu verraten.

Hinzu kommt das seltsame Phänomen, bei fehlenden konkreten Primärquellen (wie z.B. Schriften unmittelbar aus der Feder solcher Personen) mit zunehmender zeitlicher Distanz riesige Gedankengebäude, Lehren und Theologien um diese Menschen zu errichten. Die Uneinheitlichkeit dieser Gebäude ist da wenig störend, wenn man nur genügend Ähnlichkeiten zwischen ihnen findet. Man sehe sich nur einmal um in den Lehren, Theologien und Konfessionen des Christentums und Buddhismus. (Für den Misstrauenshinweis des Siddhartha und die religiöse Rebellion des Nazareners ist da übrigens nicht mehr viel Platz.)

Und noch etwas kommt dazu: Menschen folgen Lehren nicht, weil sie sie für sich betrachtet als richtig ansehen. Es ist immer notwendig, dass der Verfasser dieser Lehren kompromisslos auch selbst danach gelebt hat. Eine Lehre kann noch so überzeugend sein – sie überzeugt dennoch niemanden, wenn der Lehrende sich selbst nicht danach richtet (was bei rein rationaler Betrachtung doch eigentlich etwas seltsam anmutet, oder?). Das trägt natürlich dazu bei, dass man Biografien möglicherweise auch mal ein klein wenig ergänzt oder anpasst (von „Fälschung“ sollte man dabei allerdings nicht sprechen).

Aus Menschen macht man Sagengestalten, übermenschliche Wesen, die man dennoch für real existent erklärt. Ob Siddhartha Gautama oder Jesus von Nazareth [6]: Ihnen wollen wir unbedingt folgen, und sind nur wenig enttäuscht, wenn uns das nicht gelingt. Weil uns das nicht gelingen kann. Dafür haben wir zuvor gesorgt.

Nun, um das Ganze nicht zu lang werden zu lassen: Ja, ich glaube daran, dass Jesus Gottes Sohn war. Aber das kannst Du auch sein! Ja, ich zweifle nicht, dass Siddhartha Gautama erleuchtet wurde. Aber das kannst Du auch sein! Für mich besteht kein Zweifel, dass Jesus nicht nur einmal der Kragen platzte [7]. Und seine Todesängste am Ölberg sind sogar in den Evangelien überliefert. Das ist die gleiche Wut, das ist die gleiche Todesangst, wie andere Menschen sie haben, wie auch Du sie kennst. Nur dass niemand um deine Wut und um deine Todesangst komplizierte Theologien strickt. Und Buddha wird seine nächtlichen Zahnschmerzen genauso verflucht haben wie Du.

Befreien wir den Menschen Jesus doch von dem Mythos vollkommener Fehlerlosigkeit und hochtouriger Liebe rund um die Uhr. Befreien wird doch den Menschen Siddhartha von dem Mythos vollkommener Gelassenheit und unaufhörlicher Dopaminausschüttung. Begreifen wir doch endlich, dass Christus zwar von Jesus ausging, Buddha von Siddharta, aber der lebendige Christus nicht von der Identität mit dem historischen Jesus abhängt, und nicht der Buddha vom historischen Siddhartha.

Mir ist klar, dass das ein gefährliches Terrain ist. Und ich möchte betonen, dass ich hier nicht einer Wischiwaschi-Mentalität das Wort rede. Christus ist kompromisslos, und Buddha ist es auch. Aber: Du hast Christus nicht erst in dir verwirklicht, wenn du vollkommen fehlerlos und unablässig emotional liebend bist. Vergiss es. Das wird nie etwas. Du hast die Buddhaschaft nicht erst erreicht, wenn du nachts nicht mehr von deinen Zahnschmerzen aufwachst, weil dein Geist sich so unendlich weit über die Leidensfähigkeit deines Körper erhoben hat. Der lebendige Christus, der Buddha – das ist etwas anderes. Jedenfalls befreien sie dich nicht vom Mensch-Sein. Und das war bei Jesus und Siddartha auch nicht anders.

Die Erleuchtung ist kein göttliches Geschenk. Und die Gotteskindschaft ist kein geschichtlich einmaliger Zeugungsakt. Das sind im Menschen verankerte Eigenschaften. Eigenschaften, die aktiviert werden können.

„Es gibt Gehirnbereiche, die mystische Erfahrungen beinhalten oder zumindest aktivieren, und das belegt, dass – kurzgefasst: Der areligiöse Mensch irrt immer, wenn er glaubt, Religion sei eine Frage des Glaubens, sondern: Jeder Mensch hat diese mystischen Erfahrungsmöglichkeiten in sich, und wer sie leugnet und glaubt, es gäbe überhaupt nichts oder Religion sei sinnlos, der ignoriert einen wesentlichen Teil seiner Anlagen.“

Michael Schröter-Kunhardt, Neurologe

Die Befreiung von den vielen riesigen theoretischen Gebäuden in den Religionen, um den Kern lebendig(er) werden zu lassen, gilt nicht nur für die Religionen, sondern auch für die Mystik. Der notwendige Prozess um die Entmystifizierung der Mystik hat in einigen Bereichen bereits begonnen [8].

Wir dürfen uns zutrauen, Christus in uns leben zu lassen. Wir dürfen uns zutrauen, erleuchtet zu werden. Dazu bräuchten wir nur aufzuhören, das, was wir anstreben, in konstanter Distanz vor uns hochzuhalten. So kann es uns ja nicht näher kommen. Lassen wir doch einfach mal das viele distanzgebende Brimborium weg, und das Wesentliche in uns hinein. Auch, wenn das anstrengend sein kann.

Wir können es schaffen, den spirituellen Mount Everest zu besteigen. Das sind nicht nur zwei, denen das vor langer Zeit mal gelang. Es werden immer mehr seit dem.

Doch niemand kommt auf diesen Berg, wenn er immer nur ehrfürchtig vor ihm kniet. Das war gut, und hatte seine Zeit. Aber nun gilt es, sich auf den Weg zu machen, die Distanz zu verringern, bis auf Null.

Wer dort oben für immer bleibt, ist tot. Aber immer mehr schaffen es, dorthin und lebendig wieder zurück zu gelangen. Auch Mount-Evererst-Besteiger stolpern später mal über eine Bordsteinkante. Na und? Das ist Leben. Sie waren oben, und tragen den Gipfel immer noch bei sich. In sich.

Warum solltest nicht auch Du ein Punkt auf dieser Kurve sein, die eine Exponentialfunktion der Bewusstseinsentwicklung beschreibt?

[1] Entnommen der Auflistung der Everest-Besteigungen im Buch „Everest“, Hrsg. Peter Gillman, Bruckmann Verlag 1998.
[2] www.8000ers.com
[3] Die seinerzeit bereits lange entwickelte Meditationstradition dürfte es wahrscheinlicher machen, dass er nicht der erste war. Möglicherweise lag die Bedeutung des Siddhartha Gautama mehr in den Schlüssen, die dieser aus diesem Erlebnis zog, seiner Fähigkeit, diese zu kommunizieren, in den kulturellen Umständen der Region und Zeit, usw. Für die Aussage in diesem Artikel spielt das aber keine Rolle.
[4] Den Begriff der „Erleuchtung“ mag ich nicht besonders, da allzu oft eine große Portion Exklusivismus daran geknüpft wird.
[5] Und das hat nichts mit esoterischen kosmischen Schwellen zu tun.
[6] Jesus und Siddhartha, Christus und Buddha sind in diesem Artikel nur stellvertretend genannt.
[7] Die sog. „Tempelreinigung“, Matthäus 21,12ff; Markus 11,15ff; Lukas 19,45ff; Johannes 2,13–16.
[8] Man denke an die sog. „Neurotheologie“ und die Integralen Theorien.
[P.S.:] Nun war ich doch noch nicht wieder brav.