Mehr als drei Jahrzehnte dauerte es, bis 1953 die Besteigung des höchsten Berges der Erde, des Mount Everest, durch Tenzing Norgay und Edmund Hillary gelang. In den folgenden zehn Jahren gelang es weiteren 13 Personen, den Gipfel zu erreichen. In weiteren zehn Jahren waren es 23 Bergsteiger, den dann folgenden zehn Jahren 120, und in den nächsten zehn Jahren 456 [1]. Dieser zahlenmäßige Anstieg pro Zeitraum setzte sich fort. Schließlich erfolgte ein Drittel (!) aller erfolgreichen Besteigungen innerhalb von nur drei Jahren! [2]
Gleichzeitig wurden die „Leistungen“ an diesem Berg immer erstaunlicher, ja verrückter (die erste Besteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff, die erste Überschreitung, die erste Speedbegehung, der erste Hattrick, die erste Ski-Abfahrt, usw.).
Natürlich spielen bei diesem Phänomen verbesserte Ausrüstung, verbesserte Ausbildung usw. eine Rolle. Aber den gleichsam exponentiellen Anstieg der Personenzahl, die eine solche Leistung erreichen und manchmal übersteigen, können diese Faktoren allein nicht erklären.
Ein solches Phänomen begegnet uns nicht nur in der Bergsteigerei, sondern in vielen Bereichen. Die einst unerreichte Virtuosität eines Paganini ist bereits für viele Violinstudenten heute Standard, und wird von nicht wenigen Geigern längst übertroffen. Der (nach der Legende) tödlich verlaufene Marathonlauf ist heute Hobby ungezählter Freizeitjogger – gar nicht zu reden von den Läufern, die mittlerweile Distanzen im vierstelligen km-Bereich zurücklegen.
Als Siddhartha Gautama vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden die Erleuchtung fand, war er vielleicht der erste [3]. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass damit eine ähnliche quasi-exponentiell verlaufende Entwicklung einsetzte wie bei der Besteigung des Mount Everest. Immer mehr Menschen gelang und gelingt es, in immer kürzeren Zeitabschnitten „Erleuchtung“ [4] zu erlangen [5].
Doch dieser Gedanke behagt vielen Menschen nicht. Es gehört zur menschlichen Psychologie, unumschränkt vorbildtaugliche Personen hoch zu stilisieren, sie auf Sockel zu stellen, welche die Vorbildlichkeit noch erhöhen, gleichzeitig aber auch für uns unerreichbar zu machen. Denn jedes eigene „Versagen“, jedes eigene Unvermögen erscheint dann weniger bedeutend. Wir fühlen uns mit unseren Schwächen oder (Noch-)Nicht-Fähigkeiten einfach weniger unwohl, wenn wir sagen können: „Ja der, der war ja auch der Buddha!“ oder „Ja der, der war ja auch Gottes Sohn!“ oder „Ja die, die war ja auch eine Heilige!“. Das kratzt weniger an unserem Selbstwertgefühl, ohne dabei unser Vorbild zu verraten.
Hinzu kommt das seltsame Phänomen, bei fehlenden konkreten Primärquellen (wie z.B. Schriften unmittelbar aus der Feder solcher Personen) mit zunehmender zeitlicher Distanz riesige Gedankengebäude, Lehren und Theologien um diese Menschen zu errichten. Die Uneinheitlichkeit dieser Gebäude ist da wenig störend, wenn man nur genügend Ähnlichkeiten zwischen ihnen findet. Man sehe sich nur einmal um in den Lehren, Theologien und Konfessionen des Christentums und Buddhismus. (Für den Misstrauenshinweis des Siddhartha und die religiöse Rebellion des Nazareners ist da übrigens nicht mehr viel Platz.)
Und noch etwas kommt dazu: Menschen folgen Lehren nicht, weil sie sie für sich betrachtet als richtig ansehen. Es ist immer notwendig, dass der Verfasser dieser Lehren kompromisslos auch selbst danach gelebt hat. Eine Lehre kann noch so überzeugend sein – sie überzeugt dennoch niemanden, wenn der Lehrende sich selbst nicht danach richtet (was bei rein rationaler Betrachtung doch eigentlich etwas seltsam anmutet, oder?). Das trägt natürlich dazu bei, dass man Biografien möglicherweise auch mal ein klein wenig ergänzt oder anpasst (von „Fälschung“ sollte man dabei allerdings nicht sprechen).
Aus Menschen macht man Sagengestalten, übermenschliche Wesen, die man dennoch für real existent erklärt. Ob Siddhartha Gautama oder Jesus von Nazareth [6]: Ihnen wollen wir unbedingt folgen, und sind nur wenig enttäuscht, wenn uns das nicht gelingt. Weil uns das nicht gelingen kann. Dafür haben wir zuvor gesorgt.
Nun, um das Ganze nicht zu lang werden zu lassen: Ja, ich glaube daran, dass Jesus Gottes Sohn war. Aber das kannst Du auch sein! Ja, ich zweifle nicht, dass Siddhartha Gautama erleuchtet wurde. Aber das kannst Du auch sein! Für mich besteht kein Zweifel, dass Jesus nicht nur einmal der Kragen platzte [7]. Und seine Todesängste am Ölberg sind sogar in den Evangelien überliefert. Das ist die gleiche Wut, das ist die gleiche Todesangst, wie andere Menschen sie haben, wie auch Du sie kennst. Nur dass niemand um deine Wut und um deine Todesangst komplizierte Theologien strickt. Und Buddha wird seine nächtlichen Zahnschmerzen genauso verflucht haben wie Du.
Befreien wir den Menschen Jesus doch von dem Mythos vollkommener Fehlerlosigkeit und hochtouriger Liebe rund um die Uhr. Befreien wird doch den Menschen Siddhartha von dem Mythos vollkommener Gelassenheit und unaufhörlicher Dopaminausschüttung. Begreifen wir doch endlich, dass Christus zwar von Jesus ausging, Buddha von Siddharta, aber der lebendige Christus nicht von der Identität mit dem historischen Jesus abhängt, und nicht der Buddha vom historischen Siddhartha.
Mir ist klar, dass das ein gefährliches Terrain ist. Und ich möchte betonen, dass ich hier nicht einer Wischiwaschi-Mentalität das Wort rede. Christus ist kompromisslos, und Buddha ist es auch. Aber: Du hast Christus nicht erst in dir verwirklicht, wenn du vollkommen fehlerlos und unablässig emotional liebend bist. Vergiss es. Das wird nie etwas. Du hast die Buddhaschaft nicht erst erreicht, wenn du nachts nicht mehr von deinen Zahnschmerzen aufwachst, weil dein Geist sich so unendlich weit über die Leidensfähigkeit deines Körper erhoben hat. Der lebendige Christus, der Buddha – das ist etwas anderes. Jedenfalls befreien sie dich nicht vom Mensch-Sein. Und das war bei Jesus und Siddartha auch nicht anders.
Die Erleuchtung ist kein göttliches Geschenk. Und die Gotteskindschaft ist kein geschichtlich einmaliger Zeugungsakt. Das sind im Menschen verankerte Eigenschaften. Eigenschaften, die aktiviert werden können.
„Es gibt Gehirnbereiche, die mystische Erfahrungen beinhalten oder zumindest aktivieren, und das belegt, dass – kurzgefasst: Der areligiöse Mensch irrt immer, wenn er glaubt, Religion sei eine Frage des Glaubens, sondern: Jeder Mensch hat diese mystischen Erfahrungsmöglichkeiten in sich, und wer sie leugnet und glaubt, es gäbe überhaupt nichts oder Religion sei sinnlos, der ignoriert einen wesentlichen Teil seiner Anlagen.“
Michael Schröter-Kunhardt, Neurologe
Die Befreiung von den vielen riesigen theoretischen Gebäuden in den Religionen, um den Kern lebendig(er) werden zu lassen, gilt nicht nur für die Religionen, sondern auch für die Mystik. Der notwendige Prozess um die Entmystifizierung der Mystik hat in einigen Bereichen bereits begonnen [8].
Wir dürfen uns zutrauen, Christus in uns leben zu lassen. Wir dürfen uns zutrauen, erleuchtet zu werden. Dazu bräuchten wir nur aufzuhören, das, was wir anstreben, in konstanter Distanz vor uns hochzuhalten. So kann es uns ja nicht näher kommen. Lassen wir doch einfach mal das viele distanzgebende Brimborium weg, und das Wesentliche in uns hinein. Auch, wenn das anstrengend sein kann.
Wir können es schaffen, den spirituellen Mount Everest zu besteigen. Das sind nicht nur zwei, denen das vor langer Zeit mal gelang. Es werden immer mehr seit dem.
Doch niemand kommt auf diesen Berg, wenn er immer nur ehrfürchtig vor ihm kniet. Das war gut, und hatte seine Zeit. Aber nun gilt es, sich auf den Weg zu machen, die Distanz zu verringern, bis auf Null.
Wer dort oben für immer bleibt, ist tot. Aber immer mehr schaffen es, dorthin und lebendig wieder zurück zu gelangen. Auch Mount-Evererst-Besteiger stolpern später mal über eine Bordsteinkante. Na und? Das ist Leben. Sie waren oben, und tragen den Gipfel immer noch bei sich. In sich.
Warum solltest nicht auch Du ein Punkt auf dieser Kurve sein, die eine Exponentialfunktion der Bewusstseinsentwicklung beschreibt?
[1] Entnommen der Auflistung der Everest-Besteigungen im Buch „Everest“, Hrsg. Peter Gillman, Bruckmann Verlag 1998.
[2] www.8000ers.com
[3] Die seinerzeit bereits lange entwickelte Meditationstradition dürfte es wahrscheinlicher machen, dass er nicht der erste war. Möglicherweise lag die Bedeutung des Siddhartha Gautama mehr in den Schlüssen, die dieser aus diesem Erlebnis zog, seiner Fähigkeit, diese zu kommunizieren, in den kulturellen Umständen der Region und Zeit, usw. Für die Aussage in diesem Artikel spielt das aber keine Rolle.
[4] Den Begriff der „Erleuchtung“ mag ich nicht besonders, da allzu oft eine große Portion Exklusivismus daran geknüpft wird.
[5] Und das hat nichts mit esoterischen kosmischen Schwellen zu tun.
[6] Jesus und Siddhartha, Christus und Buddha sind in diesem Artikel nur stellvertretend genannt.
[7] Die sog. „Tempelreinigung“, Matthäus 21,12ff; Markus 11,15ff; Lukas 19,45ff; Johannes 2,13–16.
[8] Man denke an die sog. „Neurotheologie“ und die Integralen Theorien.
[P.S.:] Nun war ich doch noch nicht wieder brav.
42 Kommentare
Comments feed for this article
25. Oktober 2011 um 15:33
tom-ate
Super Beitrag, Stefan, du übertriffst dich immer wieder selbst!
Das ist die ultimative Kurzanleitung des spirituellen Wegs.
Die „Erleuchtung“ Buddhas stelle ich mir übrigens eben gerade als so einen Prozess der Entmystifizierung, des Abwerfens von theoretischem Ballast vor.
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27. Oktober 2011 um 18:51
Stefan
Das könnte gut sein, lieber Tom, dass deine Vorstellung von der „Erleuchtung“ Buddhas auch diesen Prozess beinhaltet.
Vielen Dank, Tom!
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23. November 2011 um 10:14
Falkin
Hallo Stefan,
ein wundervoller Text. Danke dafür. Vielleicht bin ich zu einfach gestrickt, ihn zu beantworten (denn offensichtlich bin ich schon zu dämlich die Kommentierfunktion am Beitrag selber zu finden), dennoch erlaube ich mir eine Anmerkung – da ich mich angesprochen fühle.
…ein Manko unserer Zeit ist die unglaubliche Impertinenz mit der der Mensch sich seiner intellektuellen Überlegenheit gewiß ist. Gott kann nur sein, was im winzigen, begrenzten Erfahrungsspektrum be-greifbar. Wir sind uns schlüssig, dass ein Haustier, oder Kleinkind dem ausgereiften Verstand eines geistig-gesunden Erwachsenen nicht das Wasser reichen kann, … aber wir können uns nicht vorstellen, dass wir uns in einem Gebilde befinden, in dem unsere Sinne, unsere Ratio auf niedrigster, primitiver Entwicklungsstufe befinden…. ein System, in dem WIR die Amöben sind. Und wer erwarte schon von einer Darmbazille, dass sie meine Steuererklärung versteht? Die fehlende Fähigkeit zur Selbsteinsicht kaschieren wir dadurch, dass wir Gott in Formeln packen. Formeln, die in der Tat unsere winzigen wenig-dimensionalen Entwicklung enstprechen (dies wird selbstredend ausgeklammert)… diese Formeln werfen Werte aus, die nicht nur unzureichend, sonden ebenfalls nur Ergebnis unserer beschränkten Sichtweise sind. Dieser-un-art Messwerte führen nur zu einem tiefer empfundenen, emotionalen Defizit. Leere. Eine Leere, für die vom Menschen gerne die Verantwortung abgeschoben und als Gott-Abwesenheit ausgelegt wird. Gott ist nicht abwesend, weil wir verlernt haben, zu fühlen… Um den un-empfundenen Gott ins Hier zu befehlen, wird mit Textzeilen jongliert. Gott wird zitiert. Und wenn nicht Gott zitiert wird, dann halt i-ein Nachbar, der eben einen Evangelisten kannte, der – zwar 90 Jahre nach Jesus lebte, ihn aber dennoch persönlich erlebte. Gott wird neu erschaffen per Bibel-plug-and-play… mit Satzbauteilen, die teils als politisches Instrumentarium umfunktioniert in weiten Teilen umgeschrieben wurde. Was bleibt ist hilflose Leere oder gar fanatische Textbesessenheit. Aber da gibt es etwas zwischen…
Damit es warm im Haus ist, reicht es nicht, entropische Formeln zu kritzeln… da muss schon die Heizung angeschaltet, Holz in den Ofen gelegt werden. Wir sind geknebelt im Makramee unseres Verstandes, unserer Wenigdimensionalität. Man kann einen Wal nun einmal nicht mit einem Schmetterlingsnetz oder Fliegenköder einfangen. Gott ist erleb-bar. Spür-bar. Ich persönlich glaube nicht an einen Gott. Überhaupt halte ich den BeGriff Gott für eine Gedanken-Ausgeburt des Menschen. Da wurden Über-Ichs erschaffen, denen wir all unsere Unzulänglichkeit in den Schoß legen und dafür gefälligst Unterstützung erwarten. Ich halte Götter für Kraft und Bewußtsein – an sich. Passagen dieser Matrix sind andockbar…. durch Zauberformeln…. und dieses Zauberformeln sind die Namen von Göttern… z.B. Hathor… die Schwingung des Namens führt uns in ein Kraftfeld, eben einen Ausschnitt dieses Ozeanes an Kraft – Bewußtsein. Die so-named Götter sind für mich die Sachbearbeiter die uns in die jeweilige Abteilung führen…. und das funktioniert. Der Buddhismus reicht wundervolle Transportfahrzeuge… und wenn dann der Verstand einfach mal an Seite gepackt und das Herz geöffnet wird, dann können wir sehr wohl und am eigenen Körper erfahren, wir sind Teil davon. Ein Nano-Tropfen der Unendlichkeit.
….ob dieses Empfinden indes nur Teil einer konstruierten Wirklichkeit ist? Who know.s, oder wie wir Metaller sagen: What shall.s hell.s bells, denn genaugenommen ist das Empfinden doch der einzige Weg sich in einer Situation zu orten. Gefühl ist für mich der Wegweiser, an welcher Stelle im Koordinatennetz meiner Weltendimension ich mich befinde. Ist es ein gutes Gefühl – dann bin ich angekommen. Bei mir… denn in mir ist der einzige Zugang zu Gott – alles andere bleibt hypothetisch.
….natürlich alles nur meine Sichtweise. Sicherlich (Tom-ate kennt das schon) weitschwafelnd am Thema vorbei. Hoffe, halbwegs verständlich und ansatzweise nachvollziehbar.
Definitiv beschränkt. Bin nämlich keine intellektuelle Höhenfliegerin, habe dennoch ein Recht auf Gott-Emp-Finden ;)))
Schöner Blog!! Freue mich, ihn gefunden zu haben.
Mit beschwingtem Gruß: die Falkin
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25. November 2011 um 15:09
Stefan
Hallo Falkin,
schön dich hier zu lesen!
Ganz offensichtlich bist du durchaus nicht „zu einfach gestrickt“.
Wir fliegen hier in eine sehr ähnliche Richtung, definitiv synchron bzgl. der Einschätzung menschlicher Erkenntnisbefähigung und Hybris.
Die hohe Bedeutung des Empfindens sehe auch ich. Was die Mystik anbelangt, lässt sich das für mich allerdings nicht gleichsetzen mit Empfinden. Aber das ändert nichts daran, dass mir deine Gedanken sehr gefallen, und mich angeregt haben, bei dir auch mal in http://www.asatruart.de/ zu stöbern. Auch das ist für mich Seelengrund, und wird verknüpft.
Herzlichen Dank,
und liebe Grüße!
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25. Oktober 2011 um 19:22
klanggebet
gefällt mir sehr und hat in weiten teilen meine zustimmung lieber stefan! 🙂
danke für dein beherztes sprechen.
was ich immer nur leicht misstrauisch beäuge ist wenn menschen andeuten, dass jeder religiösen verehrung so etwas innewohne wie die distanzierung vom objekt der verehrung, nur um eben gewollt in der ferne bleiben zu können (anstatt in der nachfolge). du schreibst ja ähnlich vom verringern der distanz, von der verehrung zur realisierung……..
darauf berufen sich ja auch viele, die die zeit der religion für die „alte energie“ halten und die zeit der mystik für die „neue energie“.
ich bin mir nicht sicher wie du dazu stehst, ich für meinen teil denke aber dass die „verringerung der distanz“ keineswegs damit einher gehen muss die religiöse verehrung als solche abzuschaffen oder ihr zu „entwachsen“.
die integrale theorie beispielsweise schießt an mancher ecke für mein empfinden am ziel vorbei bzw ist so radikal damit beschäftigt zu entmystifizieren, dass sie sich selbst ins bein schießt – das hatten wir ja schon mal…die gewünschte „quasi-empirie“. man schmeckt in der integralen theorie natürlich laufend das aroma eines „gegenmodells“ und da muss man eben abstriche machen.
man kann letzten endes jede religiöse haltung aber eben auch jede atheistische, oder mystische oder integrale dazu benutzen um sich weiterhin in vermeidung zu ergehen. das ist letzten endes ja weniger eine frage des kontextes als vielmehr eine der inneren haltung……
vielen dank für die inspirationen,
herzlich
giannina
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25. Oktober 2011 um 20:59
klanggebet
ach so ich wollte noch anmerken dass ich fan deiner überschriften bin ;)))
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27. Oktober 2011 um 19:03
Stefan
Vielen Dank, Giannina!
Mir geht es natürlich nicht darum, die Religionen abzuschaffen (was wohl auch nicht ginge; ich glaube, dass Michael Blume mit seiner Theorie richtig liegt; und ich glaube, dass man Mystik und Religion zwar trennen kann, aber nicht muss). Und mir geht es auch nicht darum, dass Denken abzuschaffen. Wo nachgedacht wird, entstehen Ansichten, und auch Lehren. Es geht wohl mehr um den Umgang mit Lehren, das Maß der Lehre, die Wertstellung der Lehre usw. (wobei ggf. auch mal für eine Weile des Weges sämtlicher theoretischer Ballast, wie Tom das nennt, abgeworfen werden darf, oder sogar muss). Auch darum geht es (vielleicht vor allem), dass ich mir wünsche, dass die Menschen (spirituell) mehr an sich glauben, ihre spirituelle Befähigung nicht abhängig machen von dem, was Lehrer und Lehren ihnen zutrauen. Aber auch um den Abbau distanzgebender Mystifizierungen u.ä.
Mystik und Mystizismus sind ja nicht das gleiche, wie du weißt, liebe Giannina. Entmystifizierung bedeutet daher nicht die Intellektualisierung der Inhalte der Mystik oder so was (wie soll das gehen? s. Artikel „Die Qualia-Rede von Gott“), sondern die Befreiung der Mystik vom Mystizismus. Im Allgemeinen wird der Mystik ein Nimbus der seltenen Gnade, der Außerordentlichkeit und Exklusivität verliehen. Da wird eine Distanz geschaffen, leicht eine Tür zu Zutrauen und Potentialen verschlossen, ja manchmal sogar Angst gemacht. Solche Mystizismen (heutzutage) abzubauen, halte ich für notwendig.
Was die religiöse Verehrung anbelangt, bin ich mir nicht sicher, ob ich verstehe, was du damit meinst. „Ich und mein Vater sind eins“ soll Jesus mal gesagt haben (Joh. 10, 30). Hat Jesus seinen Vater verehrt? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Von dem Begriff der Verehrung habe ich mich möglicherweise etwas entfremdet (Heiligkeitsempfinden, Lobpreis, Dankbarkeit sind mir da näher). U.a. aus diesem Zitat geht doch auch die Dreifaltigkeitslehre hervor. Wenn ein Mystiker vernimmt, Gott (Vater), Jesus (Sohn) und der heilige Geist seien die Dreieinigkeit, so sagt er: „Ja, klasse. Und wo ist das Problem?“ Für einen Nicht-Mystiker ist das aber ein Riesenproblem. Es braucht studierte Profi-Christen, die das in Regale füllenden Büchern dem Laien (was für ein fatales Wort!!!) erklären. Das sind z.B. diese Gebäude, die es einzureißen gilt. Eine Katholikin erzählte mir mal, dass sie in der Gemeinde fast schon gemaßregelt wurde, dass sie nicht Jesus als Gott verehre. Das kommt dann davon. Schade. Jesus als Gott zu verehren heißt für mich (u.a.), Christus unerreichbar weit weg zu schieben (und Analoges gilt für Buddha). Gott in Jesus zu erkennen hingegen heißt für mich (u.a.), Christus in jedem Menschen für möglich zu halten.
Oder rede ich nun an dir vorbei? Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe.
Liebe Grüße an dich!
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27. Oktober 2011 um 20:36
klanggebet
puh, lieber stefan. also vielleicht sortiere ich mal so:
ja, ich stimme mit dir überein dass es einer „entmystifizierung der mystik“ bedarf. in dem sinne, dass man nicht mehr annimmt, diese erfahrungen seien einer verschwindend kleinen elite vorbehalten.
herrn wilber bin ich da dankbar, die lanze zu brechen, er ist mir aber oft einfach zu „kalt“ im sinne einer „wissenschaftlichkeit“. deswegen fühle ich mich sehr viel wohler bei herrn willigis jäger beispielsweise, der ja auch nichts anderes will als darauf hinzuweisen dass mystik eine erfahrung für jeden ist – in oder ausserhalb einer konfession, aber der mir dabei eben dieses ganze quantengeschiebe erspart.
dass die religion ein gutes täte, die mystik wieder einzulassen, ist für mich so sicher wie das amen in der kirche, allerdings weiss man ja wenigstens von der katholischen kirche, dass sie da befürchtungen hegt was die „glaubenslehre“ betrifft. und da hast du eben auch meine volle zustimmung, denn die reinheit der lehre ist mir schnuppe, das zwanghaft an einem modell festhalten erschliesst nicht gerade innerliche erfahrung.
ich folgere aus der tatsache dass mystische erfahrung jedem menschen im grunde möglich ist, aber zum beispiel nicht, dass der gnadenbegriff unnütz sei (viel eher denke ich dass der begriff gnade ganze horizonte in richtung empfangen/absichtslosigkeit eröffnet, und das ganz ohne herablassung oder distanz zu implizieren, und „selten“ ist gnade sowieso nicht ;)), oder dass jesus eben auf eine art gottes sohn war wie wir alle gottes kind sein können. diese beiden schlussfolgerungen scheinen für dich ja zwangsläufig zu sein, für mich sind sie das nicht.
ich denke eben auch nicht dass die verehrung jesu als gott, oder die verehrung krishnas etc zwangsläufig dazu führt dass ich diesen gott wegschiebe und aus dem bereich meiner möglichkeiten entrücke. viele entfalten doch gerade an dieser beziehung ihr tägliches inneres beten, ohne sich dabei auf der trennung gott-mensch auszuruhen.
du hast natürlich recht wenn du sagst die verehrung birgt immer die gefahr der distanzierung. ebenso aber birgt die „wir sind alle mystiker“ nummer ja die gefahr des grössenwahns. begegnet mir jetzt schon an jeder ecke, dieser glaube, dass wir superevolutionsgottmenschen jetzt ja kurz vor dem durchbruch (ja in was eigentlich?) stehen.
neulich begegnete ich ja einer hindi frau die das ganze zum beispiel so sieht: jesus sei eben ein avatar gewesen, ein göttliches wesen das eben noch nie als mensch inkarniert war und es auch nicht wieder tun wird. dessen mission es war, einen „evolutionsschub“ der menschen zu initiieren, wie es in der weltgeschichte halt so viele avatare tun. und wir dürften uns nun eben in nachfolge üben. ist doch auch mal ne variante ;). ob jemand jesus nun für DIE inkarnation gottes hält, oder einen aus dem pantheon der avatare, oder für einen erleuchteten der in sich gott verwirklicht hat…..ich frage mich wie wichtig das ist.
herzliche grüsse, ich hoffe ich konnte mich diesmal verständlicher machen 🙂
giannina
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28. Oktober 2011 um 09:14
tom-ate
Interessante Diskussion! @klanggebet: „ich frage mich wie wichtig das ist.“ Diese Relativierung am Schluss wirkt nicht ganz glaubwürdig, wenn ein paar Zeilen obendran steht: „oder dass jesus eben auf eine art gottes sohn war wie wir alle gottes kind sein können. diese beiden schlussfolgerungen scheinen für dich ja zwangsläufig zu sein, für mich sind sie das nicht.“ Ich kann das nur als Stellungnahme für ein christliches Dogma lesen (vielleicht irre ich mich ja). Vielleicht bedeutet: „ich frage mich wie wichtig das ist“ gar keine Relativierung? sondern nur ein Bekenntnis zu religiöser Toleranz?
Für mich hat Spiritualität nur dann einen Gebrauchswert, wenn sie radikal ehrlich ist und insofern muss ich die immer falsifizierbaren Erkenntnisse der Wissenschaft, die Befreiung des Denkens durch die Aufklärung als Grundlage auch meiner Spiritualität nehmen (Ich rede ja mal von mir). Dann haben Offenbarungsreligionen natürlich das Ballastproblem. Die konkreten Offenbarungen als Dogmen zementiert beleidigen das moderne Denken. Man mag über solche Offenbarungen lange meditieren und den Sinn ergründen wollen. Spiritualität kann aus der Innerlichkeit, aus der subjektiven Erfahrung heraus solche Dogmen, die dem Machterhalt und der Bekämpfung der Existenzangst dienten, auch einfach auflösen. Was bleibt, ist kein Atheismus, denn das wäre wiederum ein Dogma.
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26. Oktober 2011 um 08:34
Mystische Erfahrungen inbegriffen « Mystik aktuell
[…] interessanten Gedanken fand ich hier: https://seelengrund.wordpress.com/2011/10/25/buddhas-zahnweh/ Kategorien:Mystik interspirituell Tags:aktivieren, Anlagen, areligiös, beinhalten, Gehirn, […]
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27. Oktober 2011 um 22:09
kurt
ob ich ,ernst gelassen dem motto treu .;eine(r) wirds schon richten vertraue und bei aller nonchelance weich werde im rücken vor dem entzücken
komischerweise ..hihi
nicht das gefühle sich suchen um auf das persönliche glück hinzusteuern werden hier liebe giannina nur begriffe in reibung gebracht
zur berstung
um einem gelehrten zu folgen
es lag mir nichts ferner um eurenglauben in frage zu beziehen
daher meine lieblingssendung ..hihi
wim tölke ,robert lembke ,wum und wendolin..
oder den fliegenden hölländer
am fliessenden band
hihi..
es gibt fortbildung
immer
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28. Oktober 2011 um 09:27
tom-ate
Übrigens: Statt „Erleuchtung“ spricht man beim Buddha ja eigentlich eher von „Erwachen“. Das scheint mir auch eine bessere Metapher zu sein. Es nimmt dem Vorgang auch das unnötig Übermenschliche. Ein vollständig wacher Geist beschreibt Buddhaschaft. Natürlich kann im Prinzip jeder diesen Zustand erreichen mit etwas Übung und Konzentration. Das Kunststück wäre dann noch, in diesem erwachten Zustand dauerhaft zu verweilen. Solches wird dem Buddha ja unterstellt 😉
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28. Oktober 2011 um 17:05
klanggebet
Grüss dich Tomate,
„Ich kann das nur als Stellungnahme für ein christliches Dogma lesen“.
Nein, das ist es ganz sicher nicht. Was hätte ich wohl mit christlichen Dogmen zu schaffen? Ein Bekenntnis zu religiöser Toleranz ist es übrigens auch nicht.
Vielmehr meinte ich damit: die mystische Erfahrung muss nicht zwangsläufig zu der Erfahrung führen dass Jesus ein Gotteskind war wie wir alle. Wie wir ja wissen, gibt es Mystiker, die in ihrer mystischen Erfahrung Jesus als Gott erfahren haben. Und es gibt solche, denen aufgrund ihrer mystischen Erfahrung Jesus als Gott abhanden kam. Nun wäre zu fragen: wer hat denn die „richtigere“ mystische Erfahrung gemacht? Oder sollten sie am Ende alle richtig sein? Was immer zu wenig erwähnt wird bei der Begeisterung über heute zugängliche mystische Erfahrung: die Leute machen durchaus unterschiedliche Erfahrungen! Und zwar nicht nur in verschiedenen Kulturkreisen, wenn man mal die Erfahrungen eines Buddhisten und die eines Christen vergleicht, sondern auch die innerhalb eines Kulturkreises. Bei allen Schnittmengen, Parallelen, Gemeinsamkeiten: es kommen durchaus unterschiedliche Dinge dabei heraus. Das kann man auch ruhig mal sagen bevor man sich allzu schnell darauf freut, dass in der Mystik ja endlich alle mal beherzt „die Wahrheit“ schauen.
Wie wichtig die Gotthaftigkeit eines Menschen oder Menschhaftigkeit eines Gottes ist, ist in der Tat eine ganz wichtige Frage, auch wenn du sie „nicht glaubwürdig“ findest. Was tut es denn mit meiner Spiritualität wenn Jesus Gott ist? Oder wenn Jesus Mensch ist? Das ist ja die interessante Frage. Und ich versuchte hier der Gleichung nachzugehen die Stefan aufgestellt hat, nämlich die, dass eine Verehrung des „erwachten Nazareners“ als Gott zwangsläufig dazu führt, dass Gott auf die eine Seite und ich auf die andere Seite sortiert werde. Nach meinem Ermessen ist das eben nicht so.
Spiritualität auf ihren „Gebrauchswert“ zu reduzieren, scheint mir nun wiederum sehr aufklärerisch im schlechtesten Sinne. Aber ansonsten brauchst Du Dir keine Sorgen um meine Aufgeklärtheit zu machen, ich bin des Denkens durchaus mächtig und denke, auch religiöse Menschen sind durchaus dazu in der Lage ;). Es gibt ja neben dem Denken durchaus noch einige andere Instanzen die „befreit“ werden müssen, n’est pas?
Herzliche Grüße
Giannina
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28. Oktober 2011 um 17:22
tom-ate
Hallo Giannina
Ich komme gerne noch auf deine Antwort zurück, hab aber im Moment zu wenig Zeit dafür. Mir scheint einmal mehr die Hälfte der Differenz geht nur auf verschiedenen Gebrauch von Begriffen zurück. Die andere Hälfte wäre jedoch interessant. Kommt mir grad so vor, als lebten wir auf unterschiedlichen Planeten, du und ich und dazwischen Stefans Planet, wo man sich vielleicht trotz unterschiedlicher Sprache treffen und zu einem Verständnis vorarbeiten könnte.
Schöne Grüße
Tom
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28. Oktober 2011 um 17:24
klanggebet
…und einen latte macchiato trinken könnte 😉
auf stefans planet steht ein interplanetares café. 😀
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30. Oktober 2011 um 11:37
Stefan
Den Latte macchiato gibt’s da aber nur in der veganen Fassung, liebe Giannina.
Eine schöne Diskussion hat sich da entwickelt.
Meinerseits zu deiner Anwort an mich schon mal:
Vielleicht mag das für dich persönlich nicht so sein (die „Sortierung“ ist nicht zwangsläufig; ich gehe lediglich davon aus, was ich tendenziell zu beobachten glaube), aber ich denke schon, dass die Gleichsetzung des Menschen Jesu mit Gott psychologisch für die meisten auch eine Barriere bedeutet, denn die Identifikation mit Jesus wäre eine Identifikation mit Gott; zu sagen aber „Ich bin Gott“ bleibt Freeman überlassen (jedenfalls außerhalb der Mystik). Jedoch unterscheide ich ja zwischen dem historischen Jesus, von dem wir nichts bis kaum etwas wissen, und dem Christus der Verkündigung (der auch Inhalt der Mystik sein kann). Dass der historische Jesus irgendwie das Christentum ausgelöst hat, ist unstrittig. Möglichweise hat er auch einen „Evolutionsschub“ ausgelöst (s. a. letzter Satz meines Artikels). Aber er war ein Mensch. Die Unterscheidung dessen von einer Inkarnation Gottes (mal „außerhalb“ der Mystik gesprochen) halte ich für sehr wichtig. U.a. aufgrund dessen, was ich als mehr oder weniger üblich psychologisch beim Menschen beobachten kann (auch wenn für dich persönlich das dann nicht gelten mag). Auch Ehrfurcht ist eine Furcht.
Das „Wir sind alle Mystiker“ vertrete ich übrigens nicht – auch, wenn ich denke, dass die Veranlagung und die Möglichkeit dazu in jedem Menschen stecken kann. Das hier ist ja kein Missionsblog, sondern ich schreibe für Interessierte und Mystiker. Zwar sind es wohl mehr als die meisten denken, und es werden mehr. Aber wie bei den Mount-Everest-Besteigern wird es insgesamt betrachtet bei einer Minderheit bleiben. Jedenfalls auf absehbare Zeit (und damit meine ich mindestens Jahrtausende). Wer weiß schon, wie die großräumige Entwicklung verlaufen wird. Es war übrigens Willigis Jäger (vlt. auch Hans-Peter Dürr; so genau erinnere ich mich nicht mehr; die beiden waren da zusammen in der Sendung), der bei Scobel (3sat) vorschlug, Meditation als reguläres Schulfach in Deutschland einzuführen. Doch das nur am Rande. Und ich finde auch das „Quantengeschiebe“ wichtig (bin aber auch kein Wilber-Jünger), aber da sagt ja vielleicht Tom noch etwas zu.
Liebe Grüße an dich,
auch an euch, Tom und Kurt,
und meinen Dank an euch.
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30. Oktober 2011 um 14:56
Stefan
P.S.:
Zu der „psychologischen Barriere“: Gerade las ich in Natur des Glaubens:
„… stand mit Jesus Christus bereits ein Mensch als Gottes Sohn, Messias und gerechter Leidender im Mittelpunkt des Glaubens. Die „Nachfolge“ bestand in einer glaubwürdigen Lebensführung – und so setzte bald eine Verehrung von Frauen und Männern ein, die sich in den Gemeinden und über sie hinaus religiös engagierten und von denen nicht wenige aufgrund ihres Glaubens als Märtyrer (griechisch = Zeugen) ermordet wurden. Zumal sie regional, nach Lebenssituationen, Berufen u.v.m. so unterschiedlich waren, schienen sie den Glaubenden oft näher als der abstrakter-unsichtbare Gott und wurden als Fürsprecher und Vermittler zu Ihm angerufen.“
Halloween und Allerheiligen – Die evolutionären Hintergründe der Heiligenverehrung
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30. Oktober 2011 um 17:24
kubrammbus
ich ,stelle fest,aha,die vögel sitzen ungefähr gleich verteilt auf allen bäumen.
aber-
dann gibt es plötzlich einen vogel,der fliegt als leitvogel
über
einen anderen
darüber
und am ende erhebt sich dieser auch
der ganze schwarm
der leitvogel fliegt nicht jeden an..
auch dürr wusste das schon..
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31. Oktober 2011 um 09:41
tom-ate
Hallo Giannina
Endlich finde ich Zeit, um auf deinen Kommentar zu antworten. Ich habe angedeutet, dass ich sprachliche Differenzen ausmache, welche die Diskussion erschweren. Z. B. greifst du meine Formulierung vom „Gebrauchswert“ der Spiritualität polemisch auf, was ein Missverständnis ist. Ich habe den Begriff Gebrauchswert in diesem Kontext durchaus mit einem Augenzwinkern verwendet. Es kommt aber m. E. nur auf die Aussage an: „Für mich hat Spiritualität nur dann einen Gebrauchswert (bzw. ist nur dann authentisch), wenn sie radikal ehrlich ist.“ – Bei dir wird daraus: „Spiritualität auf ihren „Gebrauchswert“ zu reduzieren, scheint mir nun wiederum sehr aufklärerisch im schlechtesten Sinne.“, wobei Reduktionismus eh schon mal negativ konnotiert ist. Insofern könnte ich jetzt ebenso polemisch kontern: Scheinbar ist dir Ehrlichkeit in der Spiritualität egal. (In dieser Logik wäre auch ein Stigmata-Bastler wie Pater Pio ein Seliger und er wurde ja tatsächlich von Rom 2002 sogar „heiliggesprochen“. Es mangelt der christlichen Tradition eben durchaus an Ehrlichkeit. „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ betrifft nur den direkten Umgang der Menschen untereinander. Inwiefern waren und wären Gottes „Stellvertreter“ auf der Erde der Wahrheit verpflichtet? Sie waren und sind Gott verpflichtet, den sie aber konsequent mit sich selber verwechselt haben und dies nicht in mystischer Einssetzung. Eine auch nur halbwegs kritische Kirchengeschichte deckt diese „Irrtümer“ zweifellos auf.) Nun, was ich damit eigentlich sagen wollte, man kann anderen, weniger vertrauten Sprachgebrauch beim Gesprächspartner auch dazu benutzen, um eine Diskussion zu verunmöglichen. Das wäre schade.
Stefans These, dass wir alle, nicht nur Jesus, Gottes Kinder sein können, hast du als nicht zwangsläufige Schlussfolgerung zurückgewiesen. Aus deinem Blog entnehme ich: „Ich bin transkonfessionell. Und doch sind meine Wurzeln in Christus.“ Insofern vermutete ich in deiner Zurückweisung dieser These ein Glaubensbekenntnis der Art: Jesus Christus ist DER Sohn Gottes ohne göttlichen Brüder und Schwestern. Diese naheligende Interpretation war anscheinend zu kurz gedacht. Insofern danke ich dir für die Präzisierung: „Wie wir ja wissen, gibt es Mystiker, die in ihrer mystischen Erfahrung Jesus als Gott erfahren haben. Und es gibt solche, denen aufgrund ihrer mystischen Erfahrung Jesus als Gott abhanden kam. Nun wäre zu fragen: wer hat denn die „richtigere“ mystische Erfahrung gemacht? Oder sollten sie am Ende alle richtig sein?“ Ich muss an diesem Punkt eingestehen, dass ich zuwenig vertraut bin mit christlicher Mystik. Ich kenne gerade mal Meister Eckhart ein bisschen. Insofern kann ich diese Fragen nun gar nicht abwägen. Ich mache mir aber Gedanken über den noch nicht berührten Hintergrund dieser Fragen, was ich im Folgenden noch ausführen möchte. Obwohl ich katholisch erzogen worden bin, habe ich im Laufe der Jahre diese „Wurzeln“ verloren. Jeder Mensch „bastelt“ (geht das okay?) sich mehr oder weniger bewusst im Laufe seines Lebens seine eigene „Fundamentalontologie“, welche alles weitere, z.B. seine Moral begründet. In der Regel ist diese Fundamentalontologie heutzutage und hierzulande einfach anthropozentrisch. Vor dreihundert Jahren war sie hierzulande für die meisten Leute eine Ableitung aus der heiligen Schrift, einer Art Kochbuch für das Leben. Und wenn ich oder du in Afghanistan leben würden, wäre auch heute noch, Allah die Grundkategorie allen Seins. Aber fragen wir doch mal einen der heute massgebenden Philosophen nach diesen Grundsteinen der Ontologie: „Wir leben in einer Welt, die vollständig aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht. Einige von ihnen sind in Systemen organisiert. Einige dieser Systeme sind lebende Systeme, und einige dieser lebenden Systeme haben Bewusstsein entwickelt. Mit Bewusstsein einher geht Intentionalität, die Fähigkeit des Organismus, sich Gegenstände und Sachverhalte in der Welt zu repräsentieren.“ John Searle versucht auf dieser Ontologie dann die Existenz gesellschaftlicher Tatsachen zu erklären. Doch von Gott ist nicht die Rede. Ken Wilber würde ja heftig widersprechen und Searle als einen Reduktionisten, als „Flachland“-Bewohner bezeichnen. Aber Wilber ist sich bewusst: „Man kann nicht einfach in diesem Leerraum einen Gott mit all den spezifischen Merkmalen postulieren, die einen glücklich machen…“ Die anthropomorphen Charakterisierungen Gottes sollen vermieden werden. Und das zu recht. Nur wenn wir soweit sind, dass wir Gott nicht mehr mit psychologischen, sprich menschlichen Eigenschaften ausstatten, verschwindet er dann nicht in der Leerheit, in der Unaussprechlichkeit, weil er dann auch nicht mehr mit uns „spricht“? Ich mag Wilber auch nicht, aber nicht weil zu „kalt“, sondern vielmehr weil er zu „heiss“ ist 🙂 : „Der physische Kosmos soll irgendwie die „wirklichste“ Dimension sein, und alles übrige wird in Begriffen dieser materiellen Ebene erklärt. Aber eine solche Vorgehensweise kann man nur als äußerst brutal bezeichnen. Sie klatscht den ganzen Kosmos an die Wand des Reduktionismus, und alle Bereiche mit Ausnahme des Physischen verbluten langsam vor unseren Augen. Geht man so mit einem Kosmos um?“ Muss ich noch darauf hinweisen, dass Wilber an dieser Stelle gar kein Argument benutzt, sondern einfach eine Fundamentalontologie betreibt, die heftig an die Emotionalität der Leserschaft appelliert? Der ganze Kosmos bestehe aus Materie und Geist, wobei Wilber diesen offensichtlichen Dualismus dann ja bekanntlich leugnet. Jetzt scheine ich weit weg vom ursprünglichen Thema der Mystik zu sein. Aber was vielleicht ein bisschen verständlich wird: Mystische Erfahrung will gedeutet, interpretiert, verstanden, gelebt werden. Und das tut sie in einem schon vorbestehenden weltanschaulichen Rahmen, der vielleicht dem/der MystikerIn gar nicht so bewusst ist, bzw. werden die enormen Implikationen dieses Rahmens vielleicht gar nicht verstanden. So entstehen mystische Weltbilder unter den Fahnen und Farben aller Religionen; auch agnostische, atheistische oder transkonfessionelle Weltbilder entstehen. Die Weltanschauungen entwickeln sich mit der jeweiligen mystischen Praxis weiter. Aber die Frage, was eigentlich fundamental unsere Realität ist, wird entweder nicht hinterfragt vorausgesetzt oder aber ganz vergessen. Für mich gehört nun zur Entmystifizierung der Spiritualität, der Mystik auch die radikale Auseinandersetzung mit dem, was real IST – und erst die Aufklärung ermöglicht uns diese ehrliche und offene Auseinandersetzung mit allem, so weit das dem menschlichen Geist im besten Sinne überhaupt möglich ist.
Veganen Latte machiato, also mit Sojamilch? Danke, ich nehme lieber noch einen veganen Espresso.
Schöne Grüße euch, Giannina und Stefan
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5. November 2011 um 12:46
tom-ate
Ja, das Schweigen hör ich wohl… (und trinke meinen Espresso halt alleine).
Ich weiß auch, dass Mystik „alles“ umfasst, also auch so eine kleine, lapidare Fundamentalontologie.
Und die „größere“ Tiefe sei wirklich allen gegönnt, die sie wahrnehmen.
Schöne Grüße
Tom
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6. November 2011 um 11:44
Stefan
Dein Kommentar ist zwar an Giannina gerichtet, lieber Tom, aber ich würde gerne in einem Punkt kurz darauf eingehen…
Zunächst: Mir gefällt, was du zum Thema „Fundamentalontologie“ schreibst.
Manchmal finde auch ich es arg bemüht, wie Wilber gelegentlich alles in die Nondualität versucht zu pressen. Dennoch möchte ich ihn hinsichtlich deines Zitates zum Reduktionismus ein wenig in Schutz nehmen. Denn im Kontext seines weiteren Denkens bzw. seines holarchischen Weltbildes ist es ja gerade dies, dass er die Transrationalität (nicht: Prärationalität oder Irrationalität) hervorhebt und zur „empirischen Überprüfung“ aufruft. Ich folge ihm zwar nicht darin, dies den empirischen Wissenschaften gleich zu stellen, doch das Zitat erscheint im Rahmen „transrationaler Erfahrung“ nicht ganz so schlicht. Nun, das lässt sich an dieser Stelle natürlich nicht hinreichend darstellen (Wilber selbst benötigt dazu ja hunderte bis tausende von Buchseiten). Ich lasse es einfach mal so stehen.
Vielen Dank für deine Gedanken hier. Es macht Freude, sie zu lesen.
Liebe Grüße an dich.
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7. November 2011 um 11:11
tom-ate
Hallo Stefan
Du hast mir ja mal den Wilber zur Lektüre empfohlen. Und wie du schon richtig sagst, das lässt sich hier nicht hinreichend darstellen. Deshalb nur ein paar kurze Impressionen dazu: Mir fällt beim Lesen in Wilbers Werk eine fatale Parallele zu Rudolf Steiner auf: der Wille, den Kosmos wirklich allumfassend erklären und dann auch verändern zu wollen. Ich würde mal sagen, jeder einzelne Mensch muss notwendig daran scheitern. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass trotz der theoretischen Abenteuer der Steiners und Wilbers im praktischen Bereich etwas Positives entstehen kann (Wie der biologisch-dynamische Landbau z.B.). Als „Flachland“-Bewohner, sprich eben auch naturalistisch denkendem Menschen, fallen mir immer wieder nicht-naturalistische Kurzschlüsse im Denken Wilbers auf, die dem oben genannten Willen geschuldet sind. Z.B. distanziert er sich in „Eine kurze Geschichte des Kosmos“ in einer Art von der Evolutionstheorie, die zwar im Rahmen seines ehrgeizigen Projekts Sinn zu machen scheint, zugleich aber die Evolutionstheorie negiert und zwar im Stile von Leuten, die der Idee des Intelligent Design anhängen, sprich: Es kann einfach nicht sein, dass sich so komplexe Strukturen wie ein Auge oder ein Flügel „zufällig“ entwickelt haben. Hier zeigt Wilber ein eklatantes Missverständnis evolutionärer Entwicklung. Man kann seinen Unsinn gerne nachlesen auf Seite 43 und 44: „Nehmen wir die Standardauffassung, dass sich Flügel einfach aus Vorderbeinen entwickelt haben… Mit einem halben Flügel ist man Futter…“ Er hat die Evolutionstheorie, wie so viele, nicht verstanden und wahrscheinlich will er sie nicht verstehen, denn sonst wäre wohl ein wesentlicher Teil seines neuplatonischen Werks Makulatur. Auf keinen Fall muss die Entwicklung eines Flügels aus einem Vorderbein mit einem Schlag, wie Wilber unterstellt, und dann halt zwangsläufig mit der Hilfe des GEISTES erfolgen. Es laufen heute noch bzw. wieder Vögel auf der Erde herum, deren Flügel nicht zum Fliegen taugen, was alleine schon laienhafter Beweis dafür ist, dass Flügel sich nicht auf einen Schlag entwickelt haben müssen. Man muss als Kreatur einfach fähig sein, sich auf zwei Beinen fortzubewegen, dann überlebt man mit einem „halben Flügel“, auch mit einem Zweineuntel-Flügel und weiteren Abstufungen. Vögel mit untauglichen Flügeln sind nicht ausschliesslich Futter, sondern pflanzen sich fröhlich fort. Die Liste aller Arten mit „halben Flügeln“ aufzuzählen würde dem Umfang von Wilbers Werk schon fast Konkurrenz schaffen. Es existieren auch heute noch Fische (Polypteridae, Anabantidae, Channiidae, Synbranchidae, Cobitidae, Clariidae, Cyprinodontidae, Characidae und Anguilliidae, Gobiidae, Blenniidae, Stichaeidae, Pholididae, Gobiesocidae, Clinidae, Cottidae, mit „halben Beinen“, sprich: Fische, die Landgänge mit Hilfe ihrer Flossen unternehmen. Die sind auch nicht einfach „Futter“. Worüber man zuerst meditieren sollte im Zusammenhang mit Evolution, ist das komplexe Feedbacksystem der Selektion und des Anpassungsdrucks auf die Organismen und die Organisation ihres Verhaltens im Kontext der großen zeitlichen Dimension und der Vielfalt der Habitate mit sich ebenfalls wandelnden Nahrungsangeboten und evolvierenden Prädatoren. In diesem Kontext ergeben Genvarationen durch sexuelle Fortpflanzung und zufällige Mutationen ausreichend „Sinn“. Um es mal klar zu formulieren: Die Evolutionstheorie ist wahrscheinlich die empirisch am besten abgestützte „Theorie“ überhaupt. Sie bei klarem Verstand ohne empirische Gegenbeweise anzugreifen, ist törricht.
Wann entsorgen wir endlich Platons Geisterreich der Ideen in der Mottenkiste, steigen herab vom eingebildeten Olymp auf den Boden der „Flachland“-Realität? Das tun wir eben deshalb nicht, weil uns dann etwas fehlen und die Sehnsucht danach das dominierende Lebensgefühl würde. Bei diesem Fehlen von Etwas hat Spiritualität mit Fragen an die Existenz schon immer angesetzt. Die menschliche Kognition sucht nach einer Entsprechung des Geistes im Kosmos und dann eine Stufe höher wieder in sich selbst. Das ist ganz natürlich. Es sind aber meistens Leute wie Wilber, nicht der GEIST selbst, die real antworten. (Ken Wilber halte ich dennoch für sehr intelligent. Ich bin im Vergleich zu ihm nur ein beschränkter Depp, aber immerhin so schlau, seinen Größenwahn zu durchschauen.)
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8. November 2011 um 19:25
Stefan
Hallo Tom,
ja, meine Meinung zu Kosmogonien kennst du, und wir sind uns da einig: Da überhebt sich der Mensch gewaltig.
Es ist gut möglich, dass Wilber in Sachen Evolutionstheorie daneben nagelt. Speziell dazu habe ich noch nichts von ihm gelesen (auch das von dir genannte Buch nicht). „Geist“, wie von dir angesprochen, habe ich in Wilbers Kosmogonie allerdings nicht im Sinne von ID verstanden. Aber vielleicht ist das ja ein fehlerhaftes Verständnis meinerseits, weil sich in meinem Hinterkopf zuviel synthetisiert.
Hinsichtlich deiner Schlussdarlegung zur „Flachland“-Realität möchte ich nochmal anmerken, dass die Wissenschaften für mich nur ein Beschreibungssystem bilden, das nicht „die“ Realität schlechthin abbildet, sondern auf ihre Weise nur einen modellhaften Ausschnitt (über die „Modelle“ diskutierten wir ja bereits). Spiritualität tut m.E. gut daran, die Wissenschaften anzuerkennen, nicht für ihre Zwecke zu verdrehen und/oder zu instrumentalisieren; was nicht heißen soll, nicht auch Versuche der Integration zu wagen (wobei die Ansprüche nicht verabsolutiert werden sollten. Lasst uns spielen!). Widersprüche zwischen spiritueller „Erkenntnis“ und wissenschaftlicher „Erkenntnis“ sollte man philosophisch möglichst korrekt, und: möglichst ehrlich vor sich selber angehen. Umgekehrt aber begrenzt Wissenschaft nicht die „Realität“ solcher Art aufgeräumter Spiritualität. Wo das zusammenpasst, darf man gern mal das Flachland verlassen und in die Höhe steigen.
Ich bin dir sehr dankbar für diese Diskussion. Sie lässt mich erneut gedanklich etwas durchlaufen, und hat mir möglicherweise eine wichtige Ergänzung gebracht. Vielleicht schreibe ich demnächst mal einen Beitrag dazu, wie ich damals in Folge eines mystischen „Bigbangs“ begann, meinen damaligen Glauben und meine katholische Religiösität zu zerlegen. „Dekonstruktion auf den Nullpunkt“ nannte ich das damals. Ein jahrelanger (eigentlich mir widerstrebender) Prozess. Bis nichts mehr blieb, ich auch das Wort „Gott“ lange nicht mehr verwendete. Wie nur noch die mystische Erfahrung da stand, nackt, ohne Erkenntnis, ohne Glaube, nur noch ein Impuls (aber was für einer!), wie ich erkannte, dass mystische „Erkenntnis“ eben auch nur ein Glaube ist. „Nur“, denn ich entdeckte auch, was Glaube überhaupt ist, und welche große (positive) Kraft Glaube sein kann (wobei es eine andere Frage ist, in welcher Weise man glaubt). Was Wirklichkeit ist, und was das Vertrauen in sie bewirken kann. Wie ich auf diesem Impuls neu aufbauen konnte, einen „Glauben“, der sich leben ließ. Wie ich darin scheinbar naiv mit und über Gott reden lernte, und doch unausgesprochen sich etwas weniger naives dahinter verbirgt (wie vielleicht andeutungsweise in meinen beiden letzten Artikeln, und anderen in diesem Blog erkennbar wird – dieser Blog ist ja Ausdruck des Gewonnenen aus dem Prozess). Wie ich die Religionen neu schätzen lernte; nicht als „Erkenntnisse von Realität“, sondern als Ausdruck von Wirklichkeiten. Welcher Glaube (als positive Kraft) an eine Wirklichkeit hinter den Wirklichkeiten Bestand haben kann, philosophisch und naturwissenschaftlich offen, nicht als Lückenbüßerglaube, sondern quasi integral (nicht unbedingt wilberisch). Undsoweiter. Aber vielleicht schreibe ich den Beitrag ja auch nicht, denn momentan zieht es mich mehr wieder zu meiner gewonnenen Einfachheit zurück. 😉
Vielen Dank, und liebe Grüße an dich!
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9. November 2011 um 09:42
tom-ate
Hallo Stefan
Danke für den Einblick in deinen Prozess, der ja auch hinter diesem wunderbaren Projekt „Seelengrund“ steht. Diese Dekonstruktion auf den Nullpunkt scheint mir in deinem Fall wirklich „gut gelungen“ zu sein. Man spürt das in jeder Zeile deines Blogs und deinen Kommentaren. So entsteht Authentizität, die Voraussetzung für alles Weitere. Auch den Begriff „Impuls“ als allerletztes Residuum finde ich perfekt gewählt. Wenn man den „Impuls“ auch verlöre, wäre es aus. Das Ziel ist die Einfachheit, auch da gebe ich dir recht. Man „muss“ (muss man wirklich?) halt, um wirklich den Impuls ohne Ballast ganz freizulegen, neben eigener Denkleistung auch einen Haufen Theorie durchwühlen. Um sie dann wieder ruhen zu lassen. Meine eigene Dekonstruktion dokumentiere ich sozusagen blogmäßig. Wobei ich den Schritt Buddhas mit seiner Anatta-Lehre schon vor Jahren vollzogen habe. Die aktuelle Auseinandersetzung mit den Philosophen Metzinger, Searle und Dennett haben weitere Akzente gesetzt. Ich sehe da eine Parallele zum Reduktionismus. Wenn man den Reduktionismus, also die Behauptung, letztlich stecke alles schon in den rein materialistisch zu deutenden Elementarteilchen, anzweifelt, so muss man selbst ehrlich den Weg des Reduktionismus gehen, muss diese Methode anwenden, um herauszufinden, was sie wirklich taugt. Metzinger hat das m.E. sehr schön demonstriert. Dann wird man das Phänomen Emergenz entdecken, aber nicht mehr als einen naiven Glauben an, sondern als ein Wissen um die Notwendigkeit von Emergenz. So muss ich nicht mehr an der Emergenz zweifeln, obwohl, oder vielleicht dann gerade weil sie ein fundamentalontologisches Konstrukt ist (insofern ist es wieder eine Art Glauben und wir bleiben naiv, vielleicht auf höherem Niveau…).
Was den Wilber betrifft, so hoffe ich schon, dass aus seiner integralen Praxis ein positiver Impuls für die Welt ausgehen möge. Die Menschen, die sich mit dem Werk Wilbers identifizieren, scheinen mir von weitem betrachtet jedenfalls diese Attitüde zu haben. Seine theoretischen Fehlgriffe, v.a. wenn er den „rechtsseitigen Weg“ beschreibt, weisen ihn in meinen Augen aber nicht als den geistigen Übermenschen aus, der nun der Mystik eine gültige Verfassung geben könnte. (Wie die Geschichte zeigt, ist das aber auch ziemlich egal.) Das Beispiel mit der Evolutionstheorie ließe sich weiter illustrieren, da auch Wilber den Vergleich mit den tausend Affen und den Shakespeare-Texten bringt, scheinbar ohne nachzudenken. Wäre er wirklich schlau und ehrlich, müsste er diesen Vergleich wie Dawkins zurückweisen, denn man muss, wie ich schon geschrieben habe, die systemische Rückkoppelung des Selektionsprozesses verstehen: Der Affe schreibt zufälligen Text (zufällige Mutationen), die dann mit Shakespeare verglichen werden und nur die Buchstaben, die an der richtigen Stelle stehen, bleiben übrig (Selektionsprozess). Die Kumulation dieses Lektorats in vielen Schlaufen macht den Affen in durchaus nützlicher Zeit zu einem Shakespeare. (Das Gedankenexperiment hinkt natürlich in beiden Fassungen, aber man muss die zweite Fassung wenigstens entdecken…) Wilber ist ein klassischer Dualist, der wie du schon richtig sagst, dann alles zwangsweise in eine „Nondualität“ integriert, um postmodern zu sein (Linker und rechter Weg werden dann zu beiden Händen Gottes – eine starke Metapher, die Gott nebenbei anthropomorphisiert und möglicherweise einfach den kritischen Denkprozess hemmt). Aber sein Geist-Begriff ist schon nicht identisch mit dem der ID-Leute. Ich meinte nur, dass er mit den gleichen Fehlschlüssen wie die IDler die Evolutionstheorie widerlegen, in seinen Augen ergänzen, tut.
Ich bin der Meinung, wenn man gelernt hat, in Flachland rumzulatschen, ohne an jeder Ecke gleich umzufallen, darf man sich schon mal ins Hügel- und Bergland begeben. Müssen ja nicht gerade die höchsten Himalayagipfel sein.
Liebe Grüße
Tom
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11. November 2011 um 18:11
Stefan
Vielen Dank für diese nochmals ausführliche Antwort, lieber Tom!
Ich denke auch, dass Wilber etwas wichtiges angestoßen bzw. weiterentwickelt (Gebser) hat. Und im Verbund mit anderen Philosophien wird – trotz Fehlgriffen – darin ein (vielleicht großes) Potential für Zukünftiges liegen, Spiritualität in aller (auch wissenschaftlicher) Offenheit zeitgemäß weiter zu entwickeln.
Für das Individuum, so es denn so veranlagt ist, diesen Weg der Dekonstruktion zu gehen (richtig, man muss nicht), wird es wohl tatsächlich wichtig sein, am Ende in eine „existenzielle“ Einfachheit gelangen zu können, und die viele Denkerei allenfalls spielerisch weiter zu betreiben.
Nochmals meinen Dank, und herzliche Grüße an dich!
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12. November 2011 um 10:12
tom-ate
Schön gesagt, Stefan. Die existenzielle Einfachheit – ich arbeite noch ein bisschen daran… Das Spielerische soll aber schon jetzt seinen Platz haben.
In deinem Beitrag ging’s ja auch darum, dass das Spirituelle, wie so manche andere Kletterei, einem starken (exponentiellen) Wachstum unterliege. Diese These könnte man auch diskutieren. Manchmal hab ich leider den Eindruck als wachse einfach alles exponentiell, also auch die Waffenproduktion. Ergäbe sich dann trotzdem eine Richtung? Nun, ich bin dankbar auf den Hinweis, dass spirituelles Wachstum überhaupt existiert.
@Giannina: falls du hier mitliest. Bitteschön, es gibt gerade wieder feinen Kaffee hier.
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14. November 2011 um 11:49
fliegenoderso
Auch auf die Gefahr, dass ich mich unbeliebt mache, drängt es mich zu fragen, wie eure rhetorischen Gefechte jemandem zu tieferer Erkenntnis bringen sollen, bei solchen Fragen wie: Wer bin ich? Wie komme ich zu einem Erleben von Transzendenz? Was ist heilig? Ihr erinnert mich an gewisse Philosophie-Vorlesungen, in denen Leute Spiegelgefechte führten, ohne dass es die Essenz der Texte bereichert hätte. Ich möchte eigentlich niemanden kritisieren, sondern nur sagen, wie fassungslos mich das macht.
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15. November 2011 um 07:54
tom-ate
Ja, ich sollte zwar endlich still sein, aber irgendwie stimme ich dir natürlich zu! Tiefere Erkenntnis derart, wie Fragen: wer bin ich? bedeuten, sind mit dieser Diskussion wirklich nicht zu gewinnen (aber das war auch nicht beabsichtigt!). Andererseits habe ich mit dem Bezug auf Searle zu zeigen versucht, dass die „tiefere Erkenntnis“ immer schon mit vorbestehendem Weltbild „verseucht“ ist. Mein Gequatsche geht also dahin, sich vorgängig „tieferer Erkenntnis“ das ontologische Fundament zu beäugen, auf das man sie sonst unbedacht draufstellt. Möglich, dass man an diesem Fundament vielleicht vorgängig Korrekturen anbringen möchte, was immerhin möglich ist. Es ist ein Irrtum, zu glauben, irgend ein Erleben von Transzendenz sei dann eben meine Fundamentalontologie.
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15. November 2011 um 23:36
klanggebet
find ich schon ein starkes stück, dass man sich in seinem blog wegen der art wie man gespräche mit lesern führt, rechtfertigen soll. das macht MICH nun wiederum fassungslos, und das obwohl ich hier nur gast bin. was du für erkenntnisstiftend hältst, fliegenoderso, bleibt dir ja überlassen, aber warum anderen leuten übers maul fahren nur weil sie nicht so philosophieren wie es dir in den kram passt? und dann noch ein „ich will ja keinen kritisieren“ hinterherschieben? es gibt übrigens menschen, die aus philosophievorlesungen erkenntnisse mitnehmen, oder wertvolle impulse, die sie in ihr denken, wirken und meditieren tragen. man geht eine weile schwanger damit, es arbeitet so in einem. vielleicht kennst du das ja nicht. schade für dich, aber deswegen musst du es ja nicht anderen leuten aberkennen?
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16. November 2011 um 13:46
fliegenoderso
@klanggebet: Was macht dich so aggressiv? Was hörst du aus meinem Kommentar heraus bzw. was legst du hinein? Ich jedenfalls bin kein Oberlehrer, nur ein Suchender. Ich meine mich zu erinnern, dass man im Mittelalter darüber debattierte, wieviele Engel auf eine Nadelspitze passen, Ich bezweifle aber, dass dies irgendjemandem auf der Suche nach Gott oder nach sich selbst weitergeholfen hat.
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16. November 2011 um 18:39
Stefan
Hallo fliegenoderso,
angesichts meiner Gedankenverstrickungen die Fassung zu verlieren, passiert mir auch schon mal.
Warum aber sollten wir nicht so diskutieren, wenn es uns Spaß macht? Was mich anbelangt, traue ich mir ohnehin nicht zu, tiefere Erkenntnisse zu vermitteln. Mag sein, dass ich versehentlich mal was anstoße. Ob und wie und bei wem … – da sind die Menschen wohl unterschiedlich. Und da stimme ich Giannina zu: Die/der ein oder andere kann vielleicht schon eine Anregung daraus mitnehmen, welche dann ein wenig arbeiten darf (das gilt auch für mich). Und ob man die Zahl der Engel auf einer Nadelspitze diskutiert oder nicht, hat doch auch sehr viel mit dem „ontologischen Fundament“ zu tun. Das hat Tom doch ganz großartig auf den Punkt gebracht. Und genau das, solche Klarwerdung, hilft manchen Menschen dann eben doch weiter auf ihrer Suche.
Mal allgemein: Auch Kritik ist in diesem Blog willkommen. Ich wünsche mir, dass auch die Kritik diskutiert werden darf.
Tom,
deine Frage „Ergäbe sich dann trotzdem eine Richtung?“ kann ich leider nicht beantworten…
Meinen Dank und liebe Grüße an euch alle.
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17. November 2011 um 10:41
fliegenoderso
Hallo Stefan, natürlich stimme ich dir zu, dass man diskutieren kann, was einem Spaß macht. Es ist nur etwas in diesem Stil, dass nach einem gewissen Ausmaß Reibung verursacht, wie übrigens schon „Kurt“ weiter oben angemerkt hat. Ganz anders ist das z. B. bei deinem Post „Die Katze des Yogi“, der sozusagen unmittelbar vermittelt, was du in diesem Fall sagen willst (meine ich jedenfalls).
@Tom-Ate: Auch du hast völlig recht mit dem ontologischen Fundament von Erkenntnis. Vielleicht ist es gut, das einmal deutlich zu sagen. 🙂
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17. November 2011 um 15:55
kurt
schön ,daß ich auchmal bemerkt werde..
das mit den vögel kam ja auch von mir der beitrag ,ging aber ins leere schuss in ofen..
es liegt an der schwere der wortwahl ,den gesetzen der schwerkraft trotzend sich wirklich klar zu äussern
viele hier sind mir auch geheimnisvoll..hihi
wenn nun der eine was sagt und denkt und ich das nicht begreife tue warum das solange dauert..-etc..-
ich gehe davon aus das ich mitunter garnix mehr kapier
und wenn ich dann noch in abstrakte gedankenmuster eintauche ,verlier ich völlig den faden oder die nerven..
fliegen hat recht wenn er vergleiche zu anderen blogs anführt
vielleicht ist ja auch die tagesform abhängig
zumindest stelle ich mit erleichterung fest ,daß jemand diese mühe auf sich nimmt..
mich können die intellektuellen garnich leidem..hihi
mfg an stefan und an oderso und an alle die mich hassen ..
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17. November 2011 um 16:57
kurt
ach ja bevor ichs vergesse..
ich weiss echt nicht mehr den ausgangspunkt..
die zahnschmerzen und was hat stefan geschrieben und versucht uns zu sagen…
forever
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17. November 2011 um 18:07
fliegenoderso
Hallo Kurt, ich habe schon gleich gemerkt, dass du dich zweimal bemerkbar machst. Ich fand nur, dass deine Bilder und deine kunstvolle Wortwahl für sich sprechen.
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18. November 2011 um 10:33
Brigitte
„ich gehe davon aus das ich mitunter garnix mehr kapier
und wenn ich dann noch in abstrakte gedankenmuster eintauche ,verlier ich völlig den faden oder die nerven..“
Lieber Kurt,
mit diesem Satz hast du mich eben so richtig zum Lachen gebracht. So gehts mir als auch. Ich mag dein uriges Geschreibsel, so richtig „Original“. Auch wenn ich manchmal nicht mitkomme;-)
Ich grüß dich herzlich und alle anderen auch.
Und ein dickes Dankeschön an Stefan für dieses feine Blog.
Brigitte
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17. November 2011 um 19:47
kurt
ja?-
also der vögeltext ist abgeschrieben..-
v on dürr ..stand auch da ..das ist die Pflicht..
sonst wärs dumm
ich überprüfe schon was ich falsch schreibe
andereseits ist die spontanität im eifer der anzüglichkeit oft grösser als der schein
war auch auf deiner seite bei dem gedanken ,was hauen die sich da um die ohren
wie du aber und nicht nur aber doch festellen konntest ist der stefan auch nur ein mensch
und ich glaube er mag dich
ich danke dir
ich versuche es einfacher zu sagen ,mehr nicht..
lg an alle leser und schreiber
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17. November 2011 um 20:40
kurt
gott gib mir die kraft ..den heiligen berg zu ehren..
was soll ich da damit beweisen..
der berg ist kein baum ..
so
in liebe
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20. November 2011 um 11:06
Stefan
fliegenoderso,
danke für die Anmerkung. Ich möchte schon ab und an so diskutieren, doch vielleicht hast du Recht damit, dass ich das Ausmaß im Auge behalten sollte. Wann eine Grenze erreicht ist, wird allerdings wohl unterschiedlich wahrgenommen. Aber ich nehme deine Kritik mit.
kurt,
auch deine Kommentare habe ich aufgenommen. Danke dafür, und entschuldige bitte, dass ich nicht näher darauf eingegangen bin. Das übrigens: „gott gib mir die kraft ..den heiligen berg zu ehren..“ ist für mich ein sehr wertvoller Ausspruch (auch, wenn anders verstanden, als in diesem Kontext vielleicht durch andere Leser/innen aufnehmbar).
Brigitte,
vielen Dank!
Herzliche Grüße an euch alle!
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20. November 2011 um 13:56
kurt
ich wollte nur sagen ,das so ein grosser Riese am firmament schon
gewaltig daherkommt..
mit ehren meine ich nur ,warum ihn beflecken mit meinen steigeisen..
vermuten die bergsteiger dort etwas zu finden?
schön , ist es auf der welt zu sein..
hihi.-
lachen ist gesund liebe Brigitte..
so kinders..auf zum mont..hihi
lg an alle erstbesteiger
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20. November 2011 um 14:45
tom-ate
Hallo Kurt: „vermuten die bergsteiger dort etwas zu finden?“ – Es ist einfach ein Drang oder wie man so schön sagt: Der Weg ist das Ziel, auch wenn er hoch hinauf führt. Das Leben halt, dass sich an sich selbst erfreut.
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20. November 2011 um 15:43
kurt
schon komisch ,das die meere ähnliche veranlagt sind..
nur andersrum
ich plädiere für freiräume..
zwischen den welten.
lg kurt
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